„Piratez-moi!“

Der französische Synthesizer-Magier Jean Michel Jarre provozierte 1983 die Content-Industrie

Auf seiner ersten eigentlichen Welttournee macht der neben Kraftwerk wohl einflussreichste Elektro-Avantgardist Jean Michel Jarre (1) derzeit in Deutschland Station. Der visionäre wie kommerziell erfolgreiche Musiker setzte in den 80er Jahren nicht nur Maßstäbe im Open Air-Bereich (2), sondern stellte 1983 auch den Kommerz der Musikindustrie künstlerisch infrage.

Nachdem Jarre Anfang der 80er Jahre mit „Oxygène“ das bis dahin meistverkaufte französische Album vorgelegt hatte, baten befreundete Künstler den Star um die Komposition von Hintergrundmusik für ein Kunstprojekt. Triviale Gegenstände des Alltags sollten als Kunst inszeniert werden. Der erfolgsverwöhnte Künstler, der gerade in China gigantische Open-Air-Konzerte gegeben hatte, kam während des Komponierens auf die Idee, nun im Gegenteil zu minimalisieren und seine Musik nicht über Massenverkäufe zu vermarkten (was gerade zu einem Supermarkt besonders gut gepasst hätte), sondern wie Bildende Kunst zu positionieren (3). Von seiner aktuellen Komposition sollte nur eine einzige Platte gepresst und wie ein wertvolles Gemälde auf einer Kunstauktion versteigert werden. In einer Zeit, in der alles standardisiert und kommerzialisiert sei, solle die Aktion bewusst ein Zeichen setzen und die Einmaligkeit eines Werkes demonstrieren. Die Plattenfirma war über diesen ungewöhnlichen Vertriebsweg alles andere als begeistert, doch der eigensinnige Jarre ließ sich davon erst recht nicht beirren (4).

Jean Michel Jarres Instrument ARP 2600. Foto: Joe Mabel (5). Lizenz: CC-BY-SA (6)

Im Presswerk überwachte eigens ein Komitee die Herstellung einer einzigen Kopie der Langspielplatte. Anschließend wurde alle für die Herstellung erforderlichen Aufzeichnungen unter notarieller Aufsicht zerstört – außer dem Master. Auch das Cover bestand aus einem von einem Künstler gestalteten Unikat, in das elf Polaroidfotos vom Herstellungsprozess (7) eingefügt wurden, sowie eine Stelle für ein zwölftes, das den Ersteigerer abbilden sollte. Das Master wurde im Rahmen der im Radio übertragenen Versteigerung am 6. Juli 1983 von Jarre persönlich verbrannt. Die Auktion brachte einen Erlös von 69.000 Franc (8), der für einen wohltätigen Zweck gespendet wurde. Der Künstler hatte also komplett umsonst gearbeitet.

Beim zunächst anonym gebliebenen Erwerber handelte es sich um jemanden, der nach einem Autounfall beim Wiederaufwachen Jarres Musik im Radio gehört hatte. Inzwischen wurde das Exemplar jedoch wieder an Unbekannt weiterveräußert. Als der Radiosender RTL in einer einmaligen Aktion die Platte spielte, rief Jarre demonstrativ mit den Worten „Piratez mois!“ dazu auf, die Ausstrahlung mitzuschneiden. Wohl aus dieser Aktion stammt dieses Bootleg (9).

Jarres Musik war stets trotz weitgehend fehlender Texte durchaus politisch, was bei dem Sohn einer Kämpferin der französischen Résistance wohl nicht von ungefähr kommt. In den kommunistischen Ländern des Ostblocks war seine Musik verboten, weil man befürchtete, diese suggeriere Flucht, Unendlichkeit und Weltraum. Demgegenüber durfte er im kommunistischen China als erster westlicher Künstler überhaupt in einem Stadion ein Live-Konzert (10) vor einer Milliarde TV-Zuschauern gegeben, bei dem er es sich nicht nehmen ließ, auf chinesisch „Liberté, Egalité, Fraternité“ zu sagen (11). Viele Chinesen sollen seine Musik tatsächlich mit Freiheit assoziiert haben. Dennoch verübelten ihm Kritiker seine Kooperation mit der damaligen chinesischen Staatsführung. Bei der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution beauftrage man Jarre mit einem spektakulären Konzert im Stadtteil La Defense (12). In den 90ern trat Jarre auf Einladung von Lech Wa??sa in Danzig auf. In Moskau brach er mit 3,5 Millionen Live-Zuschauern seinen Publikumsrekord. 1995 konzipierte er in Paris ein Konzert für die Toleranz (13). Jarre ist außerdem UNESCO-Sprecher und -Botschafter und trägt damit zur Bekanntheit zweier Schlüsselprojekte der UNO bei: „Water For Life“ (14)und „Education For All“ (15).

Dennoch dürfte die Aktion eher künstlerische Motive gehabt haben, als dass Jarre das Programm der Piratenpartei hätte vorwegnehmen wollen. Immerhin verkaufte der Musiker bis heute geschätzte 80 Millionen Tonträger – darunter die Alben Zoolook (16) und Rendezvous (17) auf denen sich in den Titeln „Blah-Blah Café“ und „Fifth Rendez-vous part 3″auch Teile der letztlich doch nicht ganz so exklusiv gebliebenen sagenumwobenen Komposition finden.

*gefunden auf www.heise.de